7

 

Die Blockhütte am See war von der Familie Cotton mindestens vierzig Jahre lang benutzt worden. In den letzten Jahren hatte die Familie McGraw sie genutzt. Parker meinte, am Anfang hätten sie sich wie Eindringlinge gefühlt, aber Archie Cottons Kinder waren weit über sechzig und hatten keinen Nachwuchs, der noch in Doraville wohnte. Sie schienen die Hütte den Kindern der Frau ihres Vaters gern zu überlassen.

»Jeff hat es geliebt, hier draußen zu sein«, sagte Parker. »Carson und ich werden im Frühling hier übernachten und angeln gehen, stimmt's, Carson?«

»Klar«, sagte Carson. »Wir werden Fische fangen, die Mom dann ausnimmt. Sie ist ganz wild darauf, Fische auszunehmen.« Das entlockte seinem Dad ein Grinsen.

Der diensthabende Hilfssheriff hatte uns auf den umzäunten Parkplatz hinter dem Polizeirevier dirigiert. Tolliver und ich kletterten aus dem Truck und stiegen in unseren Wagen. Wir fuhren hinter Parker her.

Der Pine Landing Lake lag etwa sechzehn Kilometer nordöstlich von Doraville, und diese sechzehn Kilometer mussten auf einer kurvigen, schmalen, zweispurigen Straße zurückgelegt werden. Es herrschte leichter Verkehr. Der See schien in der Nähe eines wesentlich kleineren Orts als Doraville zu liegen, einem Punkt auf der Landkarte namens Harmony. Wir fuhren nicht ganz um den See herum, aber an manchen Stellen konnte ich das gegenüberliegende Ufer gut erkennen. Um den See verstreut lagen mehrere Behausungen, angefangen von Häusern, die aussahen, als würden sie das ganze Jahr bewohnt, bis hin zu Gebäuden, die kaum mehr waren als Gartenpavillons.

»Im Sommer muss es hier sehr schön sein«, sagte ich, und Tolliver nickte.

Wir folgten Parkers Truck in respektvollem Abstand, und als er in eine schmale Auffahrt einbog, fuhren wir ihm hinterher. Es ging ein paar Meter steil bergab, bis wir neben dem Truck auf einer großen ebenen Fläche am Seeufer parken konnten.

Das Anwesen der Cottons lag auf einem der größeren Grundstücke. Es war ein zweistöckiges Gebäude von bescheidener Größe, und den großen Bäumen, die es umgaben, konnte man entnehmen, dass es schon wesentlich länger hier stand als die meisten anderen. Vielleicht war es auch mit mehr Feingefühl in die Landschaft gesetzt worden. Es war ein rustikales, mit Holzschindeln gedecktes Blockhaus, das sich besser in die Umgebung einfügte als die meisten anderen Gebäude, die wir sehen konnten.

Das Erdgeschoss schien ein Lagerraum für Boote und andere Freizeitgeräte zu sein. Der auf den See hinausgehende Eingang besaß mehrere schwere, durch Vorhängeschlösser gesicherte Türen. An der Südseite des Gebäudes führte eine Treppe zu einer Veranda vor dem Haupteingang. Die äußere Tür war natürlich nur Tarnung, die innere Tür eine schwere Holztür. Parker schloss auf und bat uns herein.

»Viele Blockhäuser hier haben weder Heizung noch Klimaanlage«, sagte er, »aber das hier schon. Mr Archie hat Nägel mit Köpfen gemacht. Falls der Strom ausfällt, was hier draußen öfter passiert, haben Sie hier einen Kamin. Er sollte funktionieren, wir haben ihn erst letzten Monat reinigen lassen.«

Ich sah mich um. Das Innere des Hauses bestand mehr oder weniger aus einem Raum. Es gab zwei Doppelbetten mit dem Kopfende an der westlichen Wand, daneben befanden sich mehrere mit Plastikschutzhüllen überzogene Klappbetten. Die Luft im Blockhaus war abgestanden, aber nicht unangenehm. Der Geruch der alten Zedernholzplanken war sehr intensiv. Der Kamin war in die Ostwand eingelassen, er wurde von Natursteinen gefasst. Die Wände waren unlackierte Holzbretter und trugen zu der rustikalen Atmosphäre bei. Es gab einen kleinen Herd, einen uralten Kühlschrank und ein paar Schränke neben der Tür, durch die wir gekommen waren. Eine von der westlichen Wand abgetrennte Mauer ließ ein kleines Bad vermuten. Die östliche Wand neben dem Kamin, die auf den See hinausging, war fast ganz aus Glas, und davor konnten wir eine angebaute Veranda erkennen, auf der ein paar schwere Schaukelstühle standen.

»Die Bettwäsche müsste hier sein«, sagte Parker und öffnete den Schrank unter der Spüle. »Ja, genau, wie es mir Bethalynn gesagt hat.« Er zog eine Plastiktasche mit Reißverschluss hervor und warf sie auf eines der Betten. »Da sollten genügend Decken drin sein. Manchmal kommen wir im Frühling her, und da sind die Nächte noch kalt. Wenn Sie Feuer machen müssen - das Holz ist unten. Sie können direkt zum Bootsraum hinuntergehen.« Er zeigte auf eine Falltür im Boden. »Früher haben wir das Holz draußen aufbewahrt, aber es gibt nicht nur ehrliche Leute. Manche nehmen alles mit, was wir nicht wegschließen, und selbst dann wird noch alle zwei, drei Jahre eingebrochen.«

Wir schüttelten den Kopf über die heutige Moral.

Parker seufzte aus tiefstem Herzen, um die Trauer zu überspielen, die sich auf seinem Gesicht zeigte. Carson tätschelte seinem Vater schweigend die Schulter. »Ich sehe Sie später in der Kirche«, sagte er. »Mom hat Ihre Handynummer.« Und dann war er weg, bevor wir ihn beim Weinen ertappen konnten. Wahrscheinlich übermannten ihn die Gefühle immer wieder, was nicht weiter verwunderlich war. Wann die Familie die Überreste ihres ältesten Sohns wohl beerdigen durfte?

Tolliver öffnete die Falltür und kletterte nach unten. »Hier gibt es keine Fenster!«, rief er. Ich hörte ein Klicken, und das Rechteck im Boden wurde erleuchtet. »Ich bringe etwas Feuerholz nach oben«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Während ich meinen Koffer auf das Bett warf, das dem Bad am nächsten war, hörte ich eine Reihe dumpfer Geräusche. Dann tauchte erst Tollivers Kopf und schließlich auch der Rest von ihm auf, die Arme beladen mit Eichenholzscheiten.

Ich kenne mich nicht gut mit Kaminen aus. Während Tolliver das Holz in den Kamin legte, ging ich in die Hocke und sah nach, ob die Abzugsluke auf war. Nein. Ich entdeckte einen vielversprechenden Griff und drehte mit meiner gesunden Hand umständlich daran. Voilà! Mit einem lauten Quietschen öffnete sich die Luke, und ich konnte den grauen Himmel sehen. Im Kamin stand ein Korb mit Kiefernzapfen, den ich für eine rustikale Dekoration hielt, aber Tolliver meinte, sie seien dafür gedacht, das Feuer ordentlich zum Brennen zu bringen. Da es sich um völlig normale Kiefernzapfen handelte und es draußen Millionen mehr davon gab, ließ ich zu, dass er ein paar in den Kamin legte. Er war nicht umsonst bei den Pfadfindern gewesen. Da niemand von uns Streichhölzer oder ein Feuerzeug dabeihatte, waren wir erleichtert, Streichhölzer in einer Tüte auf dem Kaminsims zu entdecken. Und noch erleichterter, als das erste, das Tolliver benutzte, eine kleine Flamme von sich gab.

Die Kiefernzapfen fingen schnell Feuer, und Tolliver legte vorsichtig ein paar Scheite in den Kamin, die er aufschichtete, wahrscheinlich damit genügend Luft hindurchströmen konnte.

In der Rolle des Feuerhüters schien er sich wie ein richtiger Mann zu fühlen, und ich überließ ihm diese Aufgabe gern. Zum Glück hatte ich noch ein paar Müsliriegel in meinem Koffer. Ich aß einen davon, während er den Kühlschrank aufmachte, in dem es noch reichlich Limonade und Wasser gab.

»Wir sollten ein paar Lebensmittel kaufen, wenn wir heute Abend in die Stadt fahren«, sagte ich.

»Willst du wirklich in die Kirche gehen?«

»Nein, eigentlich nicht, aber wo wir schon mal da sind, können wir genauso gut auch hin. Ich will nicht, dass sich die Leute hier gegen uns stellen.« Ich sah auf meine Uhr. »Wir haben noch mindestens drei Stunden Zeit. Ich leg mich hin, ich bin erledigt.«

»Du hättest diese Tasche nicht hochtragen sollen.«

»Ich hatte sie über meiner gesunden Schulter hängen, kein Problem.« Ich hatte auch eine Schmerztablette genommen, als er sich am Auto zu schaffen gemacht hatte, und sie zeigte langsam ihre Wirkung.

Ein Klopfen an der Tür ließ mich zusammenzucken. Tolliver fuhr ebenfalls überrascht hoch. Wir sahen uns an. Wir hatten unterwegs nicht bemerkt, dass uns jemand gefolgt war, und hatten eigentlich gehofft, die Reporter los zu sein.

»Ja?«, fragte Tolliver. Ich stellte mich hinter ihn und spähte über seine Schulter. Unser Besucher hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Reporter. Vor uns stand ein verhutzeltes altes Männlein, das abgetragene warme Kleidung anhatte und eine Auflaufform in den Händen hielt.

»Ich bin Ted Hamilton von nebenan«, sagte der alte Mann lächelnd. »Meine Frau und ich haben Sie mit Parker vorfahren sehen, und sie wollte Ihnen etwas rüberbringen lassen. Sind Sie Freunde der Familie?«

»Bitte kommen Sie herein«, sagte Tolliver notgedrungen. »Ich bin Tolliver Lang, das ist meine Schwester Harper.«

»Ms Lang«, sagte Ted Hamilton und nickte mir zu. »Lassen Sie mich nur das hier schnell loswerden.« Er stellte die Auflaufform ab, die er mitgebracht hatte.

»Mein Name ist eigentlich Connelly, aber sagen Sie ruhig Harper zu mir«, sagte ich. »Wohnen Sie und Ihre Frau das ganze Jahr über hier?«

»Ja, seit ich in Rente bin, schon«, sagte er. Die Hamiltons mussten in dem kleinen weißen Haus nebenan wohnen, nördlich von uns. Ich hatte das Haus vom Fenster aus gesehen und bemerkt, dass es bewohnt war. Normalerweise dürften die Hamiltons und McGraws sich nicht allzu oft zu Gesicht bekommen, da sich der Parkplatz der McGraws südlich des Blockhauses befand. Das Blockhaus der Hamiltons war ein sehr durchschnittliches kleines Haus, das rein zufällig am See zu liegen schien, ohne im Geringsten Rücksicht auf die Umgebung zu nehmen. Ich hatte allerdings bemerkt, dass es einen sehr schönen Steg besaß.

»Wir bleiben nur ein paar Tage«, sagte ich mit gespieltem Bedauern. »Das ist aber wirklich nett von Mrs Hamilton.«

»Ich nehme an, Sie kennen Twyla?«

Er war offenbar ganz begierig danach, uns auszufragen, und ich war fest entschlossen, nichts zu sagen. »Ja, wir kennen sie«, meinte ich. »Eine reizende Frau.«

»Nur ein paar Tage? Vielleicht können wir Sie ja überreden, länger zu bleiben«, sagte Mr Hamilton. »Aber jetzt, wo schlechtes Wetter angesagt ist, überlegen Sie es sich vielleicht noch anders. Mit einem Zimmer im Ort wären sie besser bedient. Es dauert eine Weile, bis jemand kommt, wenn der Strom ausfällt.«

»Und Sie glauben, dass das passieren könnte?«

»Oh, wenn wir viel Eis und Schnee haben, wie es für morgen Abend angekündigt wurde, passiert das ständig«, sagte Ted Hamilton. »Meine Frau und ich haben uns schon den ganzen Tag darauf vorbereitet. Ich bin in den Ort gefahren, habe Lebensmittel besorgt, die Wasservorräte aufgefüllt, Öl für unsere Lampen besorgt und so weiter. Ich hab im Erste-Hilfe-Kasten nachgesehen, ob wir auch genügend Verbandszeug haben, solche Sachen.«

Die aufziehende Schlechtwetterfront war eindeutig ein großes Ereignis für die Hamiltons, und ich hatte so das Gefühl, dass sie die Vorbereitungen darauf richtig genossen.

»Mit etwas Glück sind wir morgen schon unterwegs«, sagte ich. »Bitte richten Sie Ihrer Frau aus, dass wir ihr Essen sehr zu schätzen wissen. Die Auflaufform bringen wir Ihnen morgen selbstverständlich zurück.« Nachdem wir das alles mehrmals wiederholt hatten, ging Ted Hamilton die Außentreppe hinunter und um unser Blockhaus herum zu seinem zurück. Weil ich jetzt darauf achtete, konnte ich hören, wie seine Haustür aufgerissen wurde, ja, ich glaubte sogar die neugierige, fragende Stimme seiner Frau zu vernehmen.

Ich nahm die Alufolie vom Auflauf und entdeckte Hühnchen mit Reis. Ich schnupperte daran. Käse und saure Sahne, ein paar Zwiebeln. »Wow«, sagte ich beeindruckt, weil es jemand geschafft hatte, in der Dreiviertelstunde, die Tolliver und ich in dem Blockhaus waren, ein solches Gericht zu zaubern.

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